Samstag, 10. Juni 2006

Russisch und Ukrainisch in der Ukraine

Bekanntlich bin ich ja u.a. auch in Kiew, weil ich hier meine Russisch-Kenntnisse verbessern will. Was aber vielleicht die wenigsten wissen, ist die Tatsache, dass die offizielle Landessprache der Ukraine NUR das Ukrainische ist. Was bedeutet dies nun aber?

Glaubt man einer aktuellen Umfrage, so bezeichnen heute ungefähr 60% der Ukrainer Ukrainisch als ihre Mutterpsrache und 40% der Ukrainer Russisch als ihre Muttersprache, wobei der Anteil des Ukrainischen stetig steigt. Klar ist auch, dass die weite Verbreitung des Russischen noch aus der Sowjetzeit kommt. Andererseits ist es auch ein regionales Phänomen: Spricht man im Westen der Ukraine (Lvov respektive Lemberg) fast ausschliesslich Ukrainisch, so wird im Osten und Süden fast ausschliesslich nur Russisch gesprochen. Dies ist auch historisch und ethnisch bedingt, wurden doch zur Zaren- und Sowjetzeit viele Russen im industriellen Osten des Landes angesiedelt und der Süden, die Halbinsel Krim, gehört bis in die 50-er Jahre ausschliesslich zu Russland, was auch die dortigen Zarenpaläste erklärt.

Schon seit 1990 ist nun das Ukrainische die offizielle Landessprache. Der Grund für die Einführung der Ukrainischen Sprache ist offensichtlich: Es handelt sich hier um eine politische Abgrenzung und Unabhängigkeitsbekräftigung gegenüber Russland und dient ausschliesslich dem „Nation Building“. Im Alltag bedeutet dies, dass die Kinder in der Schule auf Ukrainisch unterrichtet werden, alle offiziellen Dokumente und Beschriftungen auf Ukrainisch sind, die Nachrichtensendungen im Fernsehen auf Ukrainisch und Russische Filme Ukrainisch untertitelt sind und die Werbung/Reklame auf Ukrainisch sein muss (!!!). Was mir aber beim Erlernen der Russischen Sprache hilft, ist die Tatsache, dass man in Kiew auch problemlos russisches Fernsehen schauen kann...

Doch wie stark unterscheidet sich das Ukrainische vom Russischen? Als Schweizer würde ich sagen, es ist etwa vergleichbar mit dem Unterschied zwischen dem Hochdeutschen und dem Schweizerdeutschen: Stark miteinander verwandt, aber andere Aussprache und z.T. komplett andere Wörter (30% Unterschied). Interessant ist aber, dass die Leute hier einen riesigen Unterscheid in den beiden Sprachen sehen, oder politisch motiviert, sehen wollen. Beide Sprachen werden mit kyrillischen Buchstaben geschrieben und z.T. gibt es Lautverschiebungen, so wird z.B. das „o“ im Russischen im Ukrainischen zum „i“. Obwohl ich schon über zwei Jahre intensiv Russisch lerne, habe ich im Alltag grosse Probleme zu unterscheiden, ob nun jemand Ukrainisch oder Russisch spricht...

Doch wie stark ist nun (noch?) das Russische in Kiew verbreitet? Gemäss meinen Erfahrungen wird vorwiegend Russisch gesprochen, sogar von den Kindern! Im Geschäftsleben, d.h. z.B. auf meiner Bank, wird ausschliesslich Russisch gesprochen und meine wöchentlichen Börsenkommentare werden nur ins Russische, nicht aber ins Ukrainische, übersetzt. Alle Online Börsen-News und Wirtschaftszeitungen sind ausschliesslich auf Russisch. Auch fast alle Tageszeitungen und fast alle Bücher sind Russisch. Spreche ich irgend jemanden auf der Strasse auf Russisch an, erhalte ich immer auch auf Russisch eine Antwort!

Wie schon angetönt, ist die Frage der Sprache eine höchst politische und emotionale Frage in der Ukraine, im Alltag hingegen stellt sie kaum ein Problem dar! Dass Russische hat in der Ukraine den Status einer Minoritätensprache und wird nach der Europäischen Menschenrechtscharta geschützt. In den letzten Monaten haben nun verschiedene Regionen im Osten (Kharkov, Dnepropetrovsk, Lugansk und Donetsk) und Süden (Autonome Republik Krim) das Russische in den Stand einer regionalen Amtssprache erhoben. Die Ukrainischen Nationalisten sehen in diesem legalen Schritt schon den Untergang der Ukrainischen Nation und der Ukrainische Präsident hat Schritte zur Stärkung der Ukrainischen Sprache angekündigt. Die Nationalisten sehen im Weiterbestehen der Russischen Sprache in der Ukraine immer die Gefahr von politischen Ansprüchen von Russland auf den „kleinen“ Bruder Ukraine. Auf der ehemals russischen Halbinsel Krim, wo heute noch der Russische Schwarmeerhafen ist, gab es erst kürzlich Demonstrationen, dass die Schüler klassische russische Literatur (Puschkin, Tolstoi, etc.) in der ins Ukrainischen übersetzten Version lesen müssen. Man sieht, die ganze Frage ist sehr emotional... Zum Teil auch verständlich, versetze man sich doch in die Lage einer älteren Ostukrainischen Person, die das ganze Leben lang Russisch gesprochen hat und nun alle offiziellen Dokumente in einer Sprache findet, die sie nicht versteht!

Gerade als Schweizer, wo wir doch die vier (!!!) Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch haben, ist die ganze hitzige Diskussion etwas schwer zu verstehen. Historisch hatten wir Schweizer nicht eine Grossmacht (Russland) als Nachbar, sondern gleich deren drei, nämlich Deutschland, Frankreich und Österreich-Ungarn. Und trotzdem hat die Schweiz ihre Unabhängigkeit als Willensnation bewahrt. Und soweit ich die Ukraine heute verstehe, haben nicht einmal die Ostukrainer ein Interesse an einer Wiedervereinigung mit Russland. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, dass die Ukraine noch eine sehr junge Nation ist (erst 15 Jahre alt!!!) und noch nicht ein Selbstverständnis wie die über 700 Jahre alte Schweiz hat.

Insofern ist zu hoffen, dass sich die ganze Diskussion etwas beruhigt und es etwas mehr Toleranz gibt. Denn wie schon gesagt, im Alltag gibt es keine Probleme für das friedliche Nebeneinander der beiden Sprachen!
  • UNIAN Artikel zu dieser Umfrage (E): Link
  • Wikipedia über die Ukrainische Sprache: Link
  • Wikipedia über ostslawische Sprachen: Link
  • Wikipedia über das Urslawisch: Link
  • Wikipedia über das kyrillische Alphabet: Link

2 Kommentare:

Roman Neumüller hat gesagt…

Sind denn dann diese Sprachquerlen (und dadurch aufkeimender Nationalismus auf beiden Seiten) alleine der Grund für den Quasi-Krieg, der sich da anzubahnen scheint?

Unknown hat gesagt…

Dankeschön für die detaillierte Erklärung.
MfG, Harald Fries