Sonntag, 26. November 2006

Kaufe lange Haare

In den Strassen von Kiew ist man überraschenderweise nicht so oft direkt mit der Armut konfrontiert. Natürlich sieht man manchmal Bettler, aber wirklich nur sehr selten. In etwa so oft wie in westeuropäischen Grossstädten. Und natürlich sieht man manchmal auch arme, alte Frauen in alten, zerschlissenen Kleidern. Insgesamt habe ich aber, bevor ich nach Kiew gezogen bin, gedacht, dass man in Kiew öfters mit der Armut konfrontiert wird.

Trotzdem muss es viel Armut in Kiew geben, denn das Leben ist für ukrainische Verhältnisse wirklich sehr teuer hier und ich frage mich oft, wie das die Einheimischen überhaupt bezahlen können. Da die Kiewer sehr viel Wert auf ihr Äusseres legen und sich auch mit bescheidenen finanziellen Mittel so gut wie möglich und zum Teil sogar wirklich sehr chic anziehen, ist die Armut auf der Strasse nicht so offensichtlich...

Letztes Wochenende habe ich in einem Kiewer Aussenquartier das nachfolgende Plakat an einer Wand gesehen, welches aber zeigt, dass es durchaus Armut in Kiew gibt, wenn auch versteckt:


Plakat für den Ankauf von Haaren


Auf dem (auf ukrainisch geschriebenen) Plakat steht sinngemäss in grossen Lettern "Regelmässiger Ankauf: je länger die Haare, desto teurer". Angegeben ist auch noch eine Telefonnummer und die Adresse eines Coiffeurs. Und ein Zettel mit Telefonnumer und Adresse ist schon abgerissen worden...

Somit wissen nun also die Schweizer Leserinnen, von wo die Haare der Echthaar-Perücken und des Echthaarersatzes ihres Coiffeurs kommen. Und dies ist umso trauriger, denn die Ukrainerinnen haben wirklich wunderschöne lange Haare und man sieht hier viel öfters Frauen mit sehr schönen (echten!) langen Haaren als in der Schweiz. Schon irgendwie verrückt das Ganze...

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

sehr schöner Eintrag, Beobachtungen im Alltag sind der Quell unseres inneren Reichtums, aber unser innerer Reichtum erst ermöglicht die Achtsamkeit für den
Allltag...
Gruss von Manfred aus Hamburg

Anonym hat gesagt…

Hallo Peter,

der Aspekt der Armut in der Ukraine, auch in Kiew, wird von vielen unserer westlichen Kompatrioten (EUler und Schweizer) kaum wirklich wahrgenommen. Das liegt vor allem daran, daß die meisten westlichen Ausländer in Kiew meist unter Ihresgleichen sind und wenig resp. überhaupt keinen Kontakt zu Durchschnittsfamilien pflegen.

Ich lebe mittlerweile seit fast 9 Jahren in Kiew und habe enge Kontakte zu Arbeiterfamilien, Künstlern, Geschäftsleuten und Diplomaten. Wenn auch die beiden letzt genannten Gruppen selten finanzielle Existenzprobleme haben, so ist das Leben der Menschen, die den Großteil der kiewer Bevölkerung darstellen, oft erschreckend eingeschränkt.

Im Stadtzentrum sieht man davon freilich nicht so viel, obwohl man auch dort haarsträubende Armut begegnen kann, wenn man nur richtig hinsieht.

Die während den letzten drei Jahren enorm angestiegenen Lebensmittelkosten haben schon viele Familien an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Alte Menschen, also Pensionäre, sowieso. Da muß ein Baton (ein Pfund übliches Weißbrot) auch mal drei Tage lang halten, der Brotbelag besteht dabei meist bloß aus allerbilligsten Waren wie Butter und Käse, der auf dem Rinok (Markt) besorgt wird. Die Qualitätsfrage stellt sich für diese Leute nicht.

Auch viele hochbegabte Künstler leben unter dem Existenzminimum.

Daß dabei die auch bereits in Sowjetzeiten existierende Problematik des übermäßigen Alkoholkonsums nicht rückläufig sein kann, sondern über die Jahre stets angstiegen ist, ist nachvollziehbar.

Der Verkauf der eigenen Haare ist eben für einige Leute eine kleine Geschäftsmöglichkeit. Daß es sich dabei um nachwachsende Ressourcen handelt, macht es nicht unbedingt erträglicher.

Viele Grüße

Daniel